über Leben lernen: Vortrag beim Kinder- und Jugendkongress München

Gehen wir ein paar Jahrzehnte zurück: Als Student der katholischen Religions- und Gemeindepädagogik habe ich etwa 1973 in einem der damaligen politisierenden Kreise zur Einewelt-Arbeit die ersten hektografierten Blätter in die Finger bekommen, die wir begeistert im Zirkel diskutierten:

Das Bankierssystem des Lernens, die Einlagen im Kopf der Schüler, die Wiederholung meines alten Wissens als scheinbaren Zins: Auch unsere Dozenten hatten gerade den antropozentischen Ansatz entwickelt, nicht mehr den Kanon der Katechismusfragen und der Wunder Jesu auswendig lernen zu lassen, sondern sich erst selbst zu fragen, was das jeweils im Leben unserer Schüler gerade zu sagen hat.

Freire ging weiter, wie auch wir damals: Die ersten Transparente bei der Fronleichnamsprozession waren ein Skandal, der jugendliche Aufbruch mit dem Motto „Wir sind Kirche“ war schon kaum für eher aufgeschlossene Personen, wie damals auch Kardinal Döpfner, wirklich vermittelbar.

Eine Figur der Werbung für kirchliche Berufe dieser Zeit: Dom Helder Camara, der mutige Erzbischof aus dem armen Nordosten Brasiliens, mutig gegen Grossgrundbesitzer und Militärdiktatur, heut fast nicht mehr vorstellbar:

Der Bayrische Ministerpräsident und seine Freunde verkaufen den Diktatoren Waffen, fädeln Geschäfte ein, die Zeitungen berichten stolz darüber, zeigen die Bilder, unser ohnmächtiger Protest verhallt scheinbar unverstanden. Kein Wunder, dass sich andere dabei radikalisierten und den Befreiungskampf aus Südamerika in die deutschen Städte tragen wollten, bis heute bleiben sie in den Auseinandersetzungen gerne unverstanden.

Wir radikalisierten uns mit Freire in der anderen Richtung: Die Waffen auf der Seite der Armen liegen in der Bildung, wie Paulo Freire schon in den 60er Jahren in Brasilien beweisen konnte: In der ersten Alfabetisierungskampagne noch vor der Militärdiktatur hatte er eine Steilvorlage aus der Politik bekommen, die er mit seinen Studierenden intelligent nutzte:

Nur Menschen, die Lesen und schreiben konnten, sollten zur Wahl gehen dürfen, bestimmte die damals noch liberale Regierung. Also bereiteten Freire und seine Freunde die Studierenden in vielen Zirkeln darauf vor, in den Semesterferien in ihr jeweiliges Dorf zu gehen, und den Leute in kurzen Kursen dies beizubringen.

Aber nicht nur Buchstaben, wie wir dies kennen, für die Kinder, sondern in Silben, wie das in Portugues leichter zu gliedern und merken ist, und mit dem Hintergrund der Schlüsselbegriffe: Welche Themen bewegen diese Menschen, in welchen Widersprüchen leben sie, welche Worte zu schreiben wird für sie wichtig? Bewusstseinsbildung entsteht.

Bewusstsein ist ist nicht einfach Wissen um Tatsachen, sondern auch um ihr Entstehen und ihre Möglichkeit der Veränderung: Wenn ich weiss, wie der Grossgrundbesitzer zu seinem Besitz kam, weiss ich auch, dass das nicht Schicksal ist, bekomme die Fähigkeit, die Zukunft auch anders zu denken. Getreu der Devise Thomas Müntzers: „Als Adam pflügte und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“

Wenn ich weiss, dass Unrecht immer Verteidigung braucht, weil es ein instabiler Zustand ist, wie uns Hildegard Goss-Mayer in der Friedensarbeit der folgenden Jahre auch hierzulande beibrachte, höre ich die entsprechende Botschaft, die in der Pädagogik der Unterdrückten angelegt ist: Die Armen sind eher fähig, zu lernen, weil sie nichts zu verteidigen haben.

Heute sehen wir das in einem kritischeren Licht, und Augusto Boal ist kürzlich daran gegangen, eine „Ästhetik der Unterdrückten“ zu entwerfen: Wie können wir uns aus den mit Konsumversprechen zugemüllten Bewusstseinshalden befreien?

Boal, zehn Jahre jünger als Paulo Freire, hatte mit dem Theater der Unterdrückten einen weiteren Flügel der Bewusstseinsbildung aufgemacht, den er auf Freire’s Pädagogik gründete: Beide waren dann in den 70er Jahren zuerst in südamerikanischen Ländern an der Arbeit, dann in Europa im Exil, Freire in der Schweiz, Boal in Paris.

Freire erstellte als Berater in Bildungsfragen in wirtschaftlich unterentwickelten Ländern für den Ökumenischen Weltkirchenrat in Genf Alphabetisierungskampagnen für afrikanische Länder wie Guinea Bissau, Boal hielt Workshops in ganz Europa, hauptsächlich für Schauspieler, und versuchte, Inszenierungen an Theatern zu bekommen, aber die Sprache der lateinamerikanischen Poesie war nur den alternativen Kreisen als befreiend erlebbar, die herrschende Schicht wusste zu sehr um das Unrecht, das aus der Geschichte immer wieder spürbar wurde.

Ich hatte bis dahin ein paar Berufsjahre und nebenbei eine konventionelle Schauspielschule erlebt und fand die Grundlage für meinen neuen Aufbruch (Ratzinger hatte inzwischen seinen freundlichen Mehltau auf München gelegt, und viele hoffnungsvollen Erneuerungen des Konzils und der Synode wurden zurückgenommen) in einem Projekt von Boal, das er mit arbeitslosen Schauspielenden in München inszeniert hatte: Forum-Theater, durch das Publikum zu verändern.

In der Folge gab es hier und in Berlin regelmässig Workshops und ich hatte mein neues Berufsfeld für die nächsten 25 Jahre gefunden: In der Jugendarbeit, in Fortbildungen in Verbänden war ich durchs ganze Land unterwegs, die Methoden zu vermitteln, nicht nur Statuen zu den generativen Themen der Teilnehmenden, sondern auch grosse Forum-Aufführungen mit den Leuten zu entwickeln.

Eine der größten in der Olympiahalle brachte  vor die staunenden 10.000 Besucher der Nacht der Solidarität des Katholikentages 1984 in München in 12 Minuten ein schwules Coming-out, und viele der Szenen spielten in den Strassen des Landes, von der Pershing-Stationierung bis Folter-Darstellung vor der Philharmonie in Berlin, anlässlich eines grossen Tango-Abends dort.

1994 hatten wir Paulo Freire zu Gast in München und in einigen deutschen Städten, und er sagte uns vor allem: „Befreit euch von eurem schlechten Gewissen!“ – Das hatte er in etlichen Äusserungen unserer vielen hundert Teilnehmenden gespürt, aber auch eine grosse Freude über die Darstellung der Praxis unserer KollegInnen in der Freire-Gesellschaft: Von Asylarbeit und Migrantenkindern in der Schule, Drogenarbeit und der Last der LehrerInnen war da die Szenen und die Rede.

Ein bitteres Beispiel der Angst vor dem katholischen „Kommunisten“ aus Brasilien erlebten wir in der Münchner Universität:
Flavia Mädche hatte gerade über den Dialog in der Erziehungskonzeption von Paulo Freire promoviert, das Buch heisst: „Kann lernen wirklich Freude machen?“

Überglücklich berichtet sie in der Uni, dass gerade zum Zeitpunkt ihrer Verleihung der Doktorwürde Paulo Freire, Ehrendoktor von mehr als 30 Universitäten, in München zu Gast ist. Der Kultusminister wird über die Bühne in den Saal geleitet, die Begrüssung für den Ehrengast aller anderen Universitäten sieht an dieser Universität nur peinlich aus …

Das bringt mich gerade zum Stichwort „Kultur des Schweigens“, zu dem unsere Berliner Kollegin Ilse Schimpf-Herken einmal ausführlich gerade die Universitäten angesprochen hat: Was sonst über das Verstummen der Bürger, die in Randgruppen leben oder zur Unterschicht gehören, gilt, findet auch an den Hochschulen statt: Die wichtigsten Themen werden verschwiegen, Hierarchien bleiben unangetastet.

1996 hatten wir noch einen weiteren Besuch Freire’s in Deutschland in Planung, der aber wegen gesundheitlicher Probleme nicht mehr statfinden konnte. 1997 war kurz nach dem Tod von Freire das internationale Treffen zum Theater der Unterdrückten in Toronto, wo wir gemeinsam seiner Arbeit gedachten und dankbar für seine Anregungen, die Weiterarbeit in unserem Stile besprachen.

Eine Konferenz mit den europäischen KollegInnen brachte uns dann die damals neueste Entwicklung von Augusto Boal nach München: Das Legislative Theater.

Brasilien war in den achziger Jahren wieder auf dem Wege der Demokratisierung, Freire konnte wieder nach Sao Paulo und übernahm Aufgaben in der Bildungsplanung, Augusto war Ende der 80er sogar Stadtrat von Rio de Janeiro geworden, nachdem ein erstes Projekt zu „Volkstheater-Fabiken“ wegen leerer Politiker-Versprechen geplatzt war:

Als Stadtrat konnte er seine Theatergruppe als Mitarbeitende anstellen, und sie entwickelten verschiedene Formen, wie die Anliegen der Initiativen in der Stadt in Rathausdebatten und Politik umzusetzen sind.

Diese Art der Aneignung der eigenen Stadt hat dann auch in anderer Form wieder Schule gemacht: In Porto Alegre gab es den beispielgebenden ersten partizipativen Haushalt in Brasilien, in dem die BürgerInnen in alle Prozesse der gemeinsamen Haushaltsplanung eingebunden werden.

Was in Deutschland mit der Vermittlung von Spar-Haushalten versucht wird, hat nicht mehr annähernd den Charme und die Kraft der brasilianischen Vorbilder, die eher mit hiesigen Sätzen: „Wir wollen nicht ein Brot, sondern die ganze Bäckerei!“ zu übertragen wären.

Auch wenn es hier jetzt regelmäßig Workshops zur solidarischen Ökonomie gibt: Die Grundlagen der Selbstverwalteten Betriebe und Projekte waren früher auch schon im Geiste Paulo Freire’s reflektiert, in der AG SPAK, der Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise, ursprünglich einmal der evangelischen und katholischen Studentengemeinden, stand der Arbeitskreis Bewusstseinsbildung mit der befreienden Pädagogik neben der emanzipatorischen Krüppelbewegung und dem Theoriearbeitskreis alternative Ökonomie, der Psychiatriegruppe und der Drogenarbeit. 

Die daraus gegründete Paulo-Freire-Gesellschaft intensivierte den Praxis-Austausch der Beteiligten zwischen Sozialer Arbeit, Schulen und an einigen Hochschulen, sie leidet nur etwas unter dem hohen Praxis-Einsatz der meisten KollegInnen in ihren Arbeitsbereichen, so dass wir uns oft nur kurz aus den Arbeitsbereichen berichten wie der Frauenarbeit in Afghanistan oder mit Migrantenkindern in der Schule, von Lehreraustausch Berlin mit Chile und vom Theater mit Kölner Migrantinnen.

So ist unsere Situation seltsam gespalten: Die befreiende Pädagogik wirkte in viele Bereiche, vor allem auch in die Methoden der Erwachsenenbildung, und doch haben wir kaum deutsche Literatur dazu, auch die Erstellung unserer Zeitschrift war zu mühsam geworden, gleichzeitig ist den meisten im Internet noch nicht genug Austausch-Form geläufig, Material ist dort aber reichlich zu finden.

Gleichzeitig wachsen die Aufgaben in den Schulen und die Bezüge, die Grundgedanken Freires sogar in den fortschrittlichen Unternehmen umzusetzen, unter dem Stichwort der „lernenden Organisation“, die alle Mitarbeitenden an der Planung beteiligt, bis in die Unternehmsberatungen.

Das erinnert wiederum an die neue Entwicklung in Brasilien, wo unter der neuen Regierung ein Sekretariat für Solidarische Ökonomie eingerichtet wurde, das die Genossenschaften und selbstorganisierten Betriebe unterstützt. Eine entsprechende Bewegung und eine Tagung dazu hatte hierzulande große Aufmerksamkeit, auch bei attac.

Aber auch an den nordamerikanischen Universitäten ist eine neue Linie zu finden, wie die der schon erwähnten „Lernenden Organisation“:

Dort beziehen sich inzwischen viele KollegInnen wie in Nebraska auf Paulo Freire und Augusto Boal und entwickeln lernende Strukturen, die im Gegensatz zu unseren vorgegebenen Aufträgen selbst definieren, was als Innovation notwendig ist.

So können sich Firmen direkter auf die Wünsche ihrer Kunden einrichten, Mitarbeitende selbst die Planungen fortentwickeln, können alle selbst für ihren Arbeits- und Lebensbereich Verantwortung übernehmen, ungewöhnlich in unserer weitgehend entmündigten Welt.

Und ich bin sicher, es ist die grösste Hoffnung, die wir heute Kindern machen können, in allen Umbrüchen und Unsicherheiten: Wenn sie von uns lernen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, wenn sie Bewusstsein für ihr Dasein, ihre Fähigkeiten und ihre Umwelt gewinnen, werden sie auch in der Lage sein, alles über Leben zu lernen.

Der Weg entsteht beim Gehen,

die Hoffnung wächst beim Tun.

bitte wweiter sagen ....